Seele essen Kunst auf

Ich, als Mann,
und als Mensch,
und vor allem anderen auch: ich als Künstlerin,
und überhaupt ich, ich, nur ich, und wieder ich.
Tausend. Zweitausendzweihundert. Fünfhunderttausend Mal in der Sekunde.
Genauso war es gestern auch schon gewesen, als ich mir den Gebetsriemen umschnallte.
Ich verglaste die Wände mit Speichel. Mit Spiegelei pflasterte ich die Decke.
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Es sollte ein Studio werden.
Ein Studio für angewandte freie Kunst.
Denn nur freie Kunst kann echt sein.
Darum befreie ich die Kunst unentwegt von meiner Malerei.
Weil: die ist Machwerk, Routine, Einfallslosigkeit.
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Ich wohne in einer Wohnung. Und ich scheiße ins Klo.
Doch es darf niemals nach Scheiße stinken.
Obwohl es Scheiße ist.
Darum der ganze Flitter und die bunten Seifenblasen.
In lila, pink und neongrün.
„Ausdrucksstarke Farben kontrastieren mit dem Hintergrund, der eine Großgrundlage bildet. Meine Kunst ist Ausdruck von natürlicher Ausdrucksweise, die sich nur schwer erklären lässt, weil nicht viel mehr als Geschäftssinn dahintersteckt.“(Zitat: ich, selbst)
Um so mehr stelle ich meinen Status als Künstlerin heraus. Ich mache mich dadurch unangreifbar. Argumente gegen meine Kunst erübrigen sich. Ich bin so frei wie die Kunst. Ich bin die Kunst. Kunst wird erst durch mich.
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Und so sitze ich Tag für Tag zwischen 8 Uhr morgens und 14 Uhr am Nachmittag an meinem Zeichenbrett und male meine Maltäfelchen mit teuren Filzstiften aus.
Vorzugweise 30×45 cm groß zu einem Preis von 145 Euro.
Bei 2 Bildern nur noch 120 Euro.
Und ab 3 sage und schreibe 90 Euro.
Aber bitte beeilt euch und bestellt schnell die letzten Bilder, die ich derzeit noch auf Lager habe. Eine Schaffenskrise kündigt sich nämlich bei mir an. Ich werde für Lange verreisen. Ich gehe auf Wanderschaft. Nur mit einem Rucksack bekleidet, werde ich die Stadtkirche von Pirmasens erklimmen. Ich werde an einem Gottesdienst teilnehmen und eine Kollekte von 95 Cent spenden. Ich werde stolz sein und das alles in einem Selfie festhalten. Das wird gehen, weil das die Zukunft ist, von der ich rede. Ich rede selten über die Zukunft, weil mir sowieso niemand glaubt. Dabei bin ich im Bilde über die Zukunft. Sie hat einen langen Schwanz und Noppen obendrauf. Das sieht lustig aus, weil das hin und her wackelt, wenn sie läuft. Sie läuft nicht schnell genug und nicht besonders weit. Höchsten 2 Meter. Oder auch 3. Mehr geht echt nicht.
Die Zukunft ist uralt. Sie gab es schon in der Steinzeit, als die ersten Affenmenschen Schlafprobleme wegen posttraumatischer Belastungsstörungen bekamen. Misslungene Mammutjagden waren meist die Ursache dafür. Der Fachprimat verpasste ihnen in der Regel ein Schlafmittel namens Novoprim-Hexhex. Die Tabletten gab es schon in kleinen Zehnerpackungen zu eins fünfzig. Doch als Mann und vor allem als Künstlerin kann mir das egal sein. Hauptsache ich lasse mich vom Anblick der Natur vergewaltigen und kriege einen Fotoorgasmus bei jedem Sonnenuntergang am Strand.
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Die Zweifel habe ich über Bord geworfen. Damals schon, als ich in die zehnte Klasse ging. Das Auswendiglernen hatte mich zu einer erfolgreichen Musterschülerin werden lassen. Später im Studium habe ich es nicht bereut. Ich bin jetzt ausgebildete Li-Fu-Schamanen-Malerin vierten Ranges. Aber bald erreiche ich Rang 3. Ich muss mir nur noch die Zähne putzen und zum Kleiderbügel mit dem kurzen Gestreiften greifen. Die gelben Lackschuhe drunter. Und den Ring von meiner Grußmutter an den rechten Ringfinger.
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Meiner Grußmutter begegnete ich nie. Sie grüßte nur andere und ließ Grüße an mich ausrichten. Es war aussichtslos mit ihr eine Verabredung zu vereinbaren. Vielleicht bin ich auch deswegen Künstler beziehungsweise Künstlerin geworden. Die Verletzungen haben Verletzlichkeit hinterlassen. Damit muss ich leben. Und zwar mein ganzen Leben lang. Vielleicht auch darüber hinaus. Je nachdem wie die Nachtwelt die Wichtigkeit meines Schaffens bewertet. Der Platz im Olymp wird nur aufrichtigen und bescheidenen Künstlern wie mir gewährt.
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Nur mit einem Rucksack bekleidet, habe ich Bilder gemalt, die aus meinem tiefsten Innereien hervorgekehrt wurden. All den Unrat meiner Verdauungsstörung habe ich auf die Leinwände gebannt, um ihnen die Macht über meine Dämonen zu nehmen. Egal, ob da jetzt unlogisch klingt oder nicht. Aber so bin ich nun mal: voller Zweifel und mit dem aufrichtigen Glauben an Gott.
Habe ich schon gesagt, dass mir Gottesdienste wichtig sind?
Habe ich?
Dann lösche ich das jetzt wieder..

Ein Kommentar zu „Seele essen Kunst auf

  1. Tja so sind wir: Der Mensch lässt Gase ab, aber keiner darf sie riechen. Mein Vater hat mir auf dem Sterbebett gestanden, dass er oft gefurzt hat, aber den Furz dann schnell weggerochen hat. Da blieb die Luft sauber. Wie kann man sich so opfern, fragte ich ihn: „Ich roch meine Fürze gerne“. So ging er dahin, seine letzte Lebensbeichte zurück lassend.

    Tut mir leid, das Verhältnis mit deiner Großmutter, na ja, vielleicht wollte sie ja, dass du Künstlerin wirst. Hat doch gut geklappt. Ich will nicht zynisch sein. Das Foto aber nur mit dem Rucksack bekleidet, wäre wohl selbst schon Kunst gewesen.

    Das Leben spuckt uns aus in Verhältnisse, die wir nicht in der Hand haben. Das prägt uns. Das belebt uns oder vernichtet uns. Nur die Kunst bietet Rettung.

    Fühl dich umarmt, Sven 🙂

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